Wenn er einen Raum betrat, verstummten alle
Mit seiner Familie ging Paavo Järvi in den 1980er-Jahren von Estland in die USA. Dort traf er eine Persönlichkeit, die ihn geprägt hat und bis heute im Herzen begleitet: Leonard Bernstein. Paavo Järvi erinnert sich an den grossen Dirigenten, Komponisten und Pädagogen.
Paavo, wie lange hast du bei Leonard Bernstein studiert?
Ich habe bei ihm einen Sommer studiert, am Los Angeles Philharmonic Institute. Und später gab es hier und da weitere Begegnungen. Er war eine Persönlichkeit mit einem enormen Charisma und einer unglaublich starken inneren Kraft. Und ich bin mir sehr sicher, jeder, der ihn einmal getroffen hat, erinnert sich daran als einen tiefgreifenden Moment. Es ist schwer in Worte zu fassen, welche Auswirkungen so eine Begegnung hat. Aber bei mir ist es bis heute so: Wenn ich nach einer inspirierenden und persönlichen Sichtweise in Bezug auf ein Werk suche, nach einem Ansatz, der wirklich überzeugend sowie durchdacht ist und trotzdem emotional frei, dann lande ich immer bei Bernstein.
Für welche Werke oder Komponisten zum Beispiel?
Ich meine die Art und Weise, wie er Mahler oder Bruckner dirigiert hat, aber auch Schumann und Brahms, ganz zu schweigen von der Musik des 20. Jahrhunderts, an der er selbst einen wichtigen Anteil hatte. Es geht gar nicht so sehr um die Oberfläche, jeder Dirigent zu jeder Zeit unterzieht die Werke der grossen Komponisten einer Art «Facelift». Bei Bernstein ging es stets um den Tiefgang, der bei ihm immer hörbar ist. Ausserdem hat er selbst mit seinen Kompositionen zu der vielleicht grössten amerikanischen neuen Musik beigetragen. Zu Lebzeiten verknüpfte man seinen Namen vor allem mit dem Musiktheater. Und ich bin mir sicher, er war nicht sehr glücklich darüber. Aber jetzt wissen wir, dass er auch darüber hinaus grossartige und berührende Musik geschrieben hat. Seine Werke sind geblieben und heute sehr beliebt. Andere Komponisten seiner Generation wie William Schuman oder Walter Piston – keine schlechten Komponisten – werden kaum gespielt. Aber wir sprechen über die Giganten einer ganzen Ära wie Gershwin und Copland, und sogar Copland ist gegenüber Bernstein bereits in den Hintergrund getreten.
Und Leonard Bernstein als Lehrer: Wie können wir uns den Unterricht bei ihm vorstellen?
Nun, es war im Rahmen eines Meisterkurses. Das heisst, wir sind vor einem Orchester zusammengekommen, manchmal auch mit zwei Klavieren. Bemerkenswert war, wie aufmerksam er die ganze Zeit über war. Er machte sehr schnell klar, wie er etwas haben wollte. Und er demonstrierte es auch sofort selbst. Bernstein war sehr, sehr klug in der Art, wie er Dinge wahrnahm, und auch sehr menschlich in der Art, wie er interagierte. Er sagte dann: «Ja, das ist grossartig. Oh, das ist wundervoll, aber probieren Sie mal das.» Er war immer sehr positiv und gleichzeitig liess er nichts durchgehen, was ihm nicht gefiel. Und er durchschaute Personen, die vor ihm standen sofort: Er wusste, wer ihn wirklich verstand, wer wirklich aufnehmen konnte, was er sagte, oder wer gar nicht die Fähigkeit hatte, ihn zu verstehen. So konnte man sehen, wie er sich besonders die Leute herauspickte, die ihn verstanden.
Im Hause Järvi gingen viele bekannte Künstler*innen ein und aus. Kannten sich dein Vater und Leonard Bernstein, oder wo bist du ihm später wiederbegegnet?
Nein, mein Vater und er haben sich nie getroffen. Ich bin dann später – ähnlich wie heute – viel gereist. Und wenn Bernstein irgendwo dirigiert hat, bin ich hingefahren. Wenn er zum Beispiel beim New York Philharmonic am Pult stand, fand sich dort eine grosse Gruppe pilgernder Schüler*innen von ihm ein. Wir warteten dann alle an der Bühnentür, um ihn abzupassen, wenn er ankam. In Amerika war es schon damals sehr, sehr streng mit dem Einlass. Aber er hat dann gesagt: «Oh, ja, ja, das sind meine Studenten. Die kommen alle rein!»
Du musst deine Hausaufgaben machen: Du musst alles über das Stück wissen. Du musst sehr gut vorbereitet sein. Aber wenn du auf die Bühne gehst, wirf das alles aus deinem Kopf – und fühle!
Leonard Bernstein
Welche Bedeutung hatte Leonard Bernstein für dich, als Dirigent und als
Mensch?
Nun, als ich Bernstein kennenlernte, fiel mir, da ich aus einer Dirigentenfamilie stammte und einen ungewöhnlich frühen Start in den Beruf hatte, alles relativ leicht. Und, nun ja, wenn man jung ist, denkt man, man weiss alles. Aber als ich Bernstein traf, wurde mir klar, wie viel man eigentlich arbeiten muss und wie viel Wissen man haben muss, um sich wirklich als Dirigent bezeichnen zu dürfen.
Ich glaube, der Wendepunkt war wirklich, als ich ihn sah. Da wurde mir bewusst, wie wenig ich selbst eigentlich kannte, wie viel mehr und wie viel konzentrierter der ganze Prozess des Studierens ist. Auf der einen Seite braucht es ein intensives Partiturstudium. Aber es geht auch darum, alles andere mitzudenken, was in der Zeit von Brahms, Bruckner oder Schostakowitsch auf der ganzen Welt vor sich ging und was die aktuelle Welt bewegt. Es gibt also weitere Ebenen der Tiefe und der Erkenntnis. Und um das zu erreichen, muss man wirklich anfangen zu arbeiten. Nur so kann man annähernd an das herankommen, was Bernstein gelungen ist.
Er war in derartig vielen Bereichen so begabt, so fähig, so strahlend. Es gibt viele Menschen, die für eine bestimmte, meist kurze Zeit berühmt sind. Aber das sind produzierte Stars, keine wirklichen Persönlichkeiten. Als ich Bernstein traf, war es so: Wenn er einen Raum betrat, verstummten alle – und die Leute sahen ihn nicht einmal hereinkommen. Aber sie spürten eine besondere Energie, etwas, das nur wahre Stars haben. Er war einer von ihnen.
Bei den Konzerten im Juni steht ein Werk von Leonard Bernstein auf dem Programm. Könntest du dich entscheiden, wer dich mehr beeinflusst hat: der Komponist oder der Dirigent Bernstein?
Ich denke, Bernstein als Dirigent – und als Mensch! Ich liebe seine Werke und ich bin ein grosser Fan seiner Musik. Aber als Mensch und als Musiker, der Musiker dirigiert, hat er mich wirklich am meisten inspiriert. Er war so menschlich und konnte auf eine Weise kommunizieren, dass jeder in seiner Nähe sein wollte. Er war wie ein Magnet. Wenn er irgendwo auftauchte, klebten hundert Student* innen an ihm. Das war ein echtes Ereignis.
Gibt es einen Ausspruch von Leonard Bernstein, der dir geblieben ist?
Ich lebe sozusagen nach einem der Sätze, den er uns bzw. den er mir gesagt hat. Ich habe immer versucht, beim Dirigieren alles richtig zu machen. Jeder junge Dirigent, jeder junge Musiker versucht, das Richtige zu tun, also so gut wie möglich das umzusetzen, was man gelernt und geübt hat. Bernstein sagte etwas sehr Interessantes, das für mich bis heute eine Art Motto ist. Er sagte: «Du musst deine Hausaufgaben machen: Du musst alles über das Stück wissen. Du musst sehr gut vorbereitet sein. Aber wenn du auf die Bühne gehst, wirf das alles aus deinem Kopf – und fühle!» Das ist auch für das Leben ein wichtiger Wegweiser.